Mit Verve ins Herz von Äpfeln und Artischocken: Andrea Nehring
Im Kosmos floraler, mithin von pflanzlicher Schönheit inspirierter Kunstschöpfungen ist er äußerst rar gesät: Der sich in ihnen manifestierende Brückenschlag zwischen allen Aspekten dieser Objekte künstlerischer Begierde, von ihrem äußeren Erscheinungsbild über ihr poetisches Potenzial bis hinunter in die letzten Tiefen der ihnen innewohnenden Molekularstrukturen. Denn dafür bedarf es sowohl einer fundiert künstlerisch-kunsttheoretischen wie auch einer intensiven naturwissenschaftlichen Ausbildung – eine Kombination, wie sie im realen Leben eher selten vorkommt. Als Biotechnologin und zugleich Bildende Künstlerin einer exakt solchen biografischen Linie entspringend, schöpft Andrea Nehring aus diesem reizvollen Fundus unterschiedlichster Parameter – mit oft faszinierenden Ergebnissen.
Pflanzliche Objekte als Sujets in der Kunst – fürwahr, um mit Günter Grass zu sprechen, »ein weites Feld«, bei dem sich als Protagonisten wohl am naheliegendsten die aus Blumen, Obst und Gemüse geformten Kompositköpfe des Mailänder Spätrenaissance-Malers Giuseppe Arcimboldo (1526–1593) anbieten, der mit diesen assoziativ-allegorischen Porträts neben den Dargestellten nicht zuletzt der Natur ein (menschliches) Antlitz verleihen wollte. Auch Literatur und Lyrik bieten ein mit grünen Bezügen reich bestücktes Füllhorn, in dem sich sowohl die romantischen Schwärmereien eines Joseph von Eichendorff (1788–1857) finden, die „Wunder in Berg und Tal und Strom und Feld“ preisend, wie auch »Tistou mit den grünen Daumen« (1966) von Maurice Druon, dem französischen Schriftsteller und zeitweiligen Kultusminister. Eine ganz neue Dimension der Annäherung an die pflanzliche Welt – bis hin zu deren kreativer Einverleibung im Rahmen von Eat Art Experiences (»Happen und Happening«) – eröffnet indes die 1980 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) geborene Künstlerin Andrea Nehring, die zunächst von 1999 bis 2005 an der Universität Bielefeld Molekulare Biotechnologie studierte.
Rätselhaftes im scheinbar Vertrauten
Bereits hier, wo sie im Studienalltag eher mit Laborkitteln, Gewebeproben und Reagenzgläschen in Berührung kam, wurde man schnell auf ihre künstlerischen Fähigkeiten aufmerksam und gab ihr Raum, diese – parallel vertieft im Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld – zu präsentieren, etwa in der Ausstellung »Formfindung in Biologie und Kunst«, aber auch durch eine Postkartenserie mit ihren Fotos, entstanden als Zusammenarbeit des Ästhetischen Zentrums der Universität und des Vereins zur Förderung von Kunst und Kultur an der Universität Bielefeld: „Ein nächtlicher Blick auf die Laternen vor der Uni in Farben wie bei van Gogh, das als solches kaum zu erkennende geriffelte Glas der Zwischentüren, der rotgefärbte Himmel über der schwarzen Kontur des Betons – Andrea Nehrings Fotografien lassen die Universität Bielefeld im wahrsten Sinn des Wortes in anderem Licht erscheinen. Und sie wählt Ausschnitte und Blickwinkel, die den Betrachter rätseln lassen, um was aus der scheinbar so vertrauten Welt der Universität es sich denn nun eigentlich genau handelt“, heißt es dazu anerkennend in einer universitären Mitteilung vom Februar 2005. „Neben ihren Fotoarbeiten ist sie – ein wirkliches Multitalent – auch mit Acrylbildern sowie mit Gedichten und Kurzgeschichten an die Öffentlichkeit getreten.“ Rätselhaftes aus einer scheinbar vertrauten Welt – dieser Ansatz könnte über vielen Arbeiten von Andrea Nehring stehen, die, ob dadaesk oder naturmystisch vorgebracht, erhöhte Aufmerksamkeit und Reflektion erfordern und nie nur gefällig sein wollen.
Lobgesänge auf die Natur
„Was wissen die Bienen? Wie hängt die menschliche Entwicklung mit dem Bien zusammen? Wie funktioniert der Honigprozess?“ fragte die Künstlerin, die an der Kunsthochschule Kassel von 2007 bis 2012 Bildende Kunst studierte, anlässlich ihrer Ausstellung »Honiglich« in den Räumlichkeiten der Kasseler Initiative KulturNetz. Gezeigt wurden dort, neben Zeichnungen, Fotografien und Objekten, auch die Requisiten für eine – ab 610 € buchbare – »Lecture Performance« (»Ich nektare Licht«), darunter Weidenkätzchen, Narzissen, Tulpen, Akazienhonig, Pinsel, Schale, Löffel, Handpuppe, Monochord und Bienenpollen aus dem Bergpark Wilhelmshöhe. Ihre Interpretation der schon im Mittelalter besungenen »Lebensfrische« trägt Andrea Nehring – Künstlername: Ane Mone – mit Verve in die Welt, etwa nach Marburg, wo sie mit ihrem »Poesielabor« („Für alle Sprachentdecker und Wortliebhaber!“) zur Veranstaltung »Murmeln der Apfelblüten« einlud mit: „Licht ist Mund. Mund ist Blüte. Blüte ist Apfel. Apfel ist Wort. Wir schälen Worte. Wir füllen Worte. Wir bauen Miniaturen aus Buchstaben, Licht und Erde. Wir kugeln uns apfelrund am Wort.“ Ihren dortigen Auftritt »Honiggrün ist mein Mund« hatte sie zuvor so angekündigt: „In der Birke und in der Hasel summen die ersten Bienen. Der Bär im Bärlauch lockt unsere Lebensgeister aus der Winterruhe. Mit Sprachspielen, Wort- und Lautmalereien schauen wir ins frische Grün und komponieren eine Ode an den Frühling. Sei du ganz Biene! Mache aus deinen Buchstaben ein honigliches Mahl!“ Den Schlüssel zum besseren Verständnis solch aparter Aufgaben – wie wohl zugleich zum Gesamtwerk von Andrea Nehring – liefern einige Zeilen zu ihrem Buch »Perlen – Die Gedichte der Ane Mone«, erschienen 2018 in der Edition Erle: „Es sind Hymnen und Lobgesänge auf die Natur. Horizont und Atem, Erhabenheit und Schönheit, Empfinden und Staunen, innere Schau und Weben, Hingeben und Träumen, Einkehr und Mitte, Gesang und Stille.“
Mehr unter www.andreanehring.de und www.lichttartar.eu