Bevern ist ein kleiner Ort im Weserbergland. Mit einer Kirche, einer Grundschule, einem Freibad und zwei Bushaltestellen. An Letzteren spielte sich ein Großteil meines pubertierenden Lebens ab. Denn ich war Fahrschülerin und musste jeden Tag sechs Kilometer entfernt in die Kreisstadt Holzminden zum Mädchengymnasium fahren.
Daraus entwickelte sich erstens meine Abneigung gegen öffentlichen Nahverkehr und zweitens gegen Mädchengymnasien. Im Sommer war es in den Bussen zu heiß, zu eng und zu schwitzig. Im Winter roch der Bus nach feuchter Wolle und heißem Atem an kalten Fenstern – und nach verlorener Zeit, die auf dem Schlitten oder beim Kaffeetrinken wieder aufgeholt werden musste.
Es gibt ein Weserrenaissance-Schloss, das ist ganz wichtig. Denn die Samtgemeinde liegt an der Straße der Weserrenaissance. Als ich noch auf der Schlossmauer zur Grundschule hüpfte, wurde das Schloss rosa gestrichen. Wie ein rosa Bonbon lag es mitten im Ort, und es kursierte das Gerücht, das sei der Original-Anstrich gewesen. Viel wichtiger aber war der große Kastanienbaum auf dem Schlossplatz.
Noch heute kenne ich kaum etwas Schöneres, als sattrostrote frische Kastanien aufzuheben. Sie in die Tasche zu stecken, zu fühlen und ihre perfekte, glatte Haut zu bewundern. Wenn ich Menschen treffe, die Bevern kennen, bin ich immer fasziniert. Ich frage genau nach, ob sie auch DAS Bevern im Weserbergland meinen, und ich freue mich, wenn das so ist. Mit all seiner Langeweile, seinen ruhigen und unruhigen Dorfstraßen ist mir das Dorf ans Herz gewachsen.
Als ich nach Kassel kam, ist mir aufgefallen, dass ich in vielen Gesprächen in Kassel nach drei, vier Fragen immer gefragt wurde, wo ich denn geboren sei. Ich erzähle dann, dass ich in Hannover geboren und in Bevern aufgewachsen bin. Und schon lange Jahre in Kassel lebe. Und das gern. Es gibt zwei Reaktionen auf diese Aussage: Die Zugezogenen nicken wohlwollend, die Eingeborenen zögern und setzen zum „Ja, aber …“ an. Und fragen oft vorsichtig und fast ungläubig: „Gefällt es Ihnen hier wirklich?“ Es ist ganz seltsam, ein Großteil der Nicht-Hessen und zugezogenen Kasseler verständigt sich immer sehr schnell über die Vorteile der Stadt.
Es ist wie in einem Geheimbund: Wir erkennen uns gleich und erzählen uns davon, dass wir diese Stadt mögen. Und genau so, wie wir über die schönen Seiten reden, haben wir keine Hemmungen, die hässlichen anzuprangern. Die Zugezogenen zählen zum Geheimbund der unbefangenen Kassel-Lästerer und -Liebhaber.
Mit den Einheimischen sieht das schon anders aus. Da schwingen oft kleine Entschuldigungen für diese Stadt mit. Die Nachteile werden aufgezählt. Oder sie wird über den grünen Klee gelobt. Oder man erzählt sich, man sei eigentlich nur auf dem Sprung, New York und London warten.
Kann ich so alles nicht unterschreiben. Ich lebe hier und jetzt. Kassel ist eine lebendige Heimat für mich. Mit unglaublich vielen Geschichten. Genau die will ich erzählen. Dachte ich mir vor sieben Jahren und entwickelte die „Kasseler Gespräche“ im Café Nenninger. Schon die Idee machte viele Menschen um mich herum ganz ängstlich: „Was willst Du denn da erzählen? Wen willst Du einladen? Gibt es so viele spannende Themen in und um Kassel?“
Gut, das ich dickköpfige Niedersächsin bin und meinen Geheimbund habe. Hunderte von Podiumsgästen und Tausende von Gästen später kann ich sagen: Es werden immer mehr spannende Geschichten. So viele kann ich gar nicht erzählen, wie da in der Warteschleife hängen.
Ich weiß einfach, was ich an der Stadt habe. So wie ich weiß, warum ich das Dorf mag, in dem ich groß wurde. Langweilige Bushaltestellen hin oder her.
Petra Nagel
Journalistin, Moderatorin und
Erfinderin der Kasseler Gespräche