„Und, weil ich das draußen auf einigen Plakaten gesehen habe: Nein, ich habe niemals gesagt, dass der Herkules abgerissen werden soll!“ – mit dieser aus eigenem Antrieb geäußerten, recht skurril anmutenden Rechtfertigung von dOCUMENTA (13)-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) bei der großen documenta-Eröffnungspressekonferenz am 6. Juni standen die unverhofften Neben-Helden der diesjährigen größten Kunstausstellung der Welt schon recht frühzeitig fest: die Grafiker Jens Bringmann und Valentin Kopetzki. Mit dem von ihnen entworfenen Plakat – einer im Comic-Stil gehaltenen Reaktion auf die diversen Verdikte von CCB über andere Kasseler Kunstprojekte – veranlassten sie die documenta-Leiterin immerhin zu einer entsprechenden Reaktion vor anderthalb Tausend Journalisten aus aller Welt – das muss Kunst erst einmal fertig bringen. Doch dann folgte eine unerwartete Überraschung.
Scheinbar klare Verhältnisse überdenken
Die Stimmung war zwar noch gereizt, als schließlich das große Ausschwärmen der Medienvertreter zu den zahllosen Ausstellungsorten der dOCUMENTA (13) begann, doch die Verärgerung über den selbst bis dahin wenig kooperativen Umgangsstil von CCB wich schnell dem großen Staunen über das von ihr Geleistete. Denn, so die später vielerorts zu hörende erste Einschätzung: Je mehr documenta-Standpunkte aufgesucht wurden, umso klarer strukturierte sich plötzlich das dahinter stehende, offenbar trotz aller CCB-„Ich habe kein Konzept“-Beteuerungen real dann doch existierende Konzept, das in sich sogar durchaus schlüssig wirkt: Eine auch sinnlich ansprechende „Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Menschen und Dingen“, wie es der ZEIT-Kunstkritiker Hanno Rauterberg formulierte, ein eher leise gehaltener Denkanstoß, der doch mit zahlreichen anziehenden Facetten aufwarten kann, getragen von dem Grundgedanken: Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt. Da passte es auch gar nicht mal so schlecht, dass der zuständige dOCUMENTA (13)-Mitarbeiter es schließlich glatt vergaß, die vorgesehenen rund 2.000 persönlichen Einladungen zur offiziellen documenta-Eröffnungs-Party im Kulturbahnhof zu verschicken. „Wir sind nicht perfekt“, seufzte, darauf angesprochen, documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld leise. Aus reiner Verzweiflung hatte er noch am Tag vor der Party höchstselbst auf dem Friedrichsplatz stundenlang Eintrittskarten an potentielle documenta-Freunde verteilt.
Auch an vergessenen Orten
Die Kasseler und die Besucher aus der Region sind bei dieser documenta klar im Vorteil – und auch das Hotel- und Gaststättengewerbe wird diesen Umstand aufgrund vermutlich zahlreicher verlängerter Buchungen hocherfreut zur Kenntnis nehmen – denn es ist schier ein Ding der Unmöglichkeit, die komplette d13, mit ihren über das gesamte Stadtgebiet plus Satelliten verteilten Ausstellungsorten, an einem Tag oder auch nur an einem Wochenende zu besuchen. Wem sie gefällt, der wird fast zwangsläufig wiederkommen. Neben den traditionellen Hauptorten – dem Fridericianum, der documenta-Halle und der Neuen Galerie – findet die dOCUMENTA (13) nämlich in einer kaum überschaubaren Vielzahl anderer Räume statt, die – so CCB in einem Einführungstext in die von ihr konzipierte Ausstellung – unterschiedliche physische, psychologische, historische und kulturelle Bereiche und Realitäten repräsentieren. Sie finde in Räumen statt, die der Natur- und Technikgeschichte gewidmet sind, wie das Ottoneum und die Orangerie, „und in kleinen Komponenten, die sich über die großartigen ausgedehnten Grünflächen der barocken Karlsaue verteilen“. Ein Gegenstück zu diesem Park und seinen „Sphären der Aufklärung“ bilden die industriellen Räume hinter dem früheren Hauptbahnhof; dieser ist laut Christov-Bakargiev ein „dystopischer Raum“, mithin fußend auf repressiver sozialer Kontrolle und zudem „verbunden mit der Fabrikwelt, die im 20. Jahrhundert für das nationalsozialistische Regime Panzer produzierte“. Darüber hinaus gehören zu den Spielorten der dOCUMENTA (13) eine Vielzahl anderer „bürgerlicher Räume verschiedenster Stellung abseits der Hauptorte“, Räume, die noch genutzt werden oder aber Orte, „die mit der Zeit vergessen und entfernt wurden“, so die documenta-Leiterin.
Betende Motore und das LIFE-Magazin
Gelegentlich zählt auch der Versuch als Kunstwerk, und so gilt es zu konstatieren, dass Kassel im Rahmen der Ausstellungsvorbereitungen für die d13 nur um Haaresbreite dem Niedergang eines Meteoriten entgangen ist: Das zweitgrößte Exemplar der Welt, der in Nordargentinien beheimatete „El Chaco“, der – gäbe es sie denn – mit seinen knapp zwei Kubikmetern Umfang dennoch 37 Tonnen auf die Waage bringen würde, sollte vor das Fridericianum gelegt werden. Doch dieses Projekt scheiterte schließlich am Widerstand argentinischer Interessengruppen, und „El Chaco“, älter als die Erde selbst, liegt nach wie vor dort, wo er seit rund viereinhalb Tausend Jahren liegt. Sehr in Kassel präsent ist hingegen der von Gräsern, Blumen und Gemüse bewachsene große Hügel inmitten der Karlswiese, der sogenannte „Hügel des Nichtstuns“ von Song Dong, dem nach Ai Weiwei zweiten chinesischen Künstler in Folge auf diesem Platz. Ob die chinesischen Schriftzeichen auf dem Hügel allerdings tatsächlich ihre offizielle Bedeutung haben, können wohl nur Gäste aus Fernost beurteilen; möglicherweise steht dort auch „Mit taktischem Geschick den Tigerberg bezwingen!“ oder gar ein schmackhaftes Rezept für Hühnersuppe – gut, wenn Kunst zumindest noch einen Rest von Geheimnis in sich birgt. Zu Publikumsfavoriten entwickelten sich bereits in den ersten Ausstellungswochen die „betenden Automotoren“ von Thomas Bayrle und die aus 360 Internet-Fundbildern, auf Leinwand übertragen, bestehende Rauminstallation „Limited Art Projekt“ von Yan Lei, beide positioniert in der documenta-Halle, sowie die Fotoinstallation „Leaves of Grass“ von Geoffrey Farmer in der Neuen Galerie: Hunderte von zu Schattenspielfiguren umgewandelte Fotos aus dem LIFE-Magazin der Jahre 1935 bis 1985. Doch es gibt noch viel mehr zu entdecken, und die 100 Tage bis zum Ende der Ausstellung am 16. September werden dafür bestenfalls knapp reichen.